Unser Gemeindebürgerrecht - eine schweizerische Besonderheit


 

Unser altes Gemeindebürgerrecht hat sich bis in die Gegenwart hinein in seiner ursprünglichen Form erhalten. Dem Aufbau unseres Staatswesens von unten nach oben, von den Gemeinden zum Kanton und von den Kantonen zum Bund, entspricht unser Schweizerbürgerrecht. Jeder Schweizer gehört einer ganz bestimmten Gemeinde an, unabhängig vom Geburtsort oder vom Wohnort. Wer das Bürgerrecht einer Gemeinde besitzt, ist zugleich Bürger dieses Kantons und jeder Kantonsbürger ist Schweizerbürger. Die schweizerische Regelung gibt der Gemeinde eine Schlüsselposition, sie ist im staatsrechtlichen Sinne für alle ihr angehörenden Bürger die eigentliche Heimat. Das erklärt die vielfach gebrauchte Bezeichnung Heimatgemeinde an Stelle von Bürgergemeinde. Sie stellt ihren Angehörigen, die sich anderswo niederlassen wollen, einen Heimatschein aus und ist verpflichtet, sie jederzeit wieder bei sich aufzunehmen, selbst dann, wenn sie "armengenössig" werden. In der Wohngemeinde hinterlegt man den Heimatschein für die Dauer seines Aufenthaltes.

Das Andersartige, ja das spezifisch Schweizerische, tritt noch sichtbarer zutage, wenn man sich die Entstehung des persönlichen Gemeindebürgerrechts klar macht. Weder der Ort der Geburt noch der Wohnsitz in dieser oder jener Gemeinde sind von ausschlaggebender Bedeutung. Das Bürgerrecht in einer bestimmten Gemeinde - es können auch mehrere sein - wird durch die Geburt vom Vater her erworben und auf Söhne und Töchter weiter vererbt. Es begleitet jeden Schweizer vom ersten Tag an bis zum Lebensende. Ein Verzicht oder gar ein Verlust, etwa durch dauernden Aufenthalt im Ausland, ist nur unter gewissen Voraussetzungen möglich. Das Gemeindebürger- recht als Grundlage des Staatsbürgerrechtes im schweizerischen Sinne und die gleichzeitige Verknüpfung mit dem Familienstamm ist ungewöhnlich und in dieser Form nur in unserem Lande und im Fürstentum Liechtenstein anzutreffen. 

Unter dem Einfluss der volkswirtschaftlich bedingten innerstaatlichen Wanderung ist heute weitaus die Mehrheit aller Schweizerbürger nicht mehr in der angestammten Heimat sesshaft. Im Jahre 1860 wohnten noch beinahe 60 Prozent der einheimischen Bevölkerung in jenem Ort, dem sie als Bürger angehörten. Hundert Jahre später zeigte das Ergebnis der Volkszählung ein ganz anderes Bild. Nur noch der vierte Teil der schweizerischen Bevölkerung hat 1960 die Wohngemeinde zugleich als die Heimat- gemeinde bezeichnet. Sehr viele Schweizer kennen den Ort der Väter nur noch vom Hörensagen, und noch öfters sind zur Bürgergemeinde weder persönliche noch ver- wandtschaftliche Bande mehr vorhanden. Sie steht nur noch in den Ausweisschriften und hat durch die veränderten Verhältnisse die ehemalige Bedeutung weitgehend eingebüsst. 

Heute ist es jedem Schweizerbürger freigestellt, sich zusätzlich zum angestammten Bürgerrecht um ein neues zu bewerben und gleichzeitig das alte beizubehalten. 

In unserem Lande ist die Institution des persönlichen Gemeindebürgerrechtes aus dem staatsrechtlichen Leben nicht mehr wegzudenken. Allerdings stellt die Heimatgemeinde nicht mehr schlechthin den Ort dar, der im Verarmungsfalle zur Unterstützung verpflichtet ist. Heute leistet in erster Linie die Wohngemeinde die notwendige Hilfe. Dennoch ist das Gemeindebürgerrecht, abgesehen von gewissen Vorteilen und manchen damit verbundenen Vorrechten, mehr als nur ein Rechtsverhältnis zwischen Bürger und Staat. Vor allem darf die geistige Ausstrahlung und Wirkung des Bürgersinnes nicht über- sehen werden. Die Liebe zur engsten Heimat und das Wissen um die Mitverantwortung am Schicksal der Gemeinde, und damit auch am Staate, als freier auch Pflichten übernehmender Bürger, geht in unserem Lande auf eine jahrhundertealte Tradition zurück. 

Im modernen Rechtsstaat ist die genaue Bezeichnung aller Personen zur Vermeidung jeglicher Zweifel ein absolutes Erfordernis jeder verwaltungsinternen Tätigkeit. Einst genügten in den Urkunden zur Festlegung von Rechtsgeschäften die blossen Namen allein, heute aber ist es selbstverständlich, überall dort, wo es sich darum handelt, eine Person genau zu kennzeichnen, dem Familiennamen und Vornamen weitere Merkmale beizufügen. Ausser dem Geburtsdatum, den Namen der Eltern, dem Zivilstand usw. ist es bei uns herkömmlich, vor allem den Heimat- oder Bürgerort zu nennen. Anders als die Schweiz verwendet das Ausland, da es den Begriff des Heimatortes mit der jedem Schweizer geläufigen Bedeutung gar nicht kennt, meist den Geburtsort. 

Der schweizerische Sachverhalt bedingt in jeder Gemeinde für alle Einwohner ausser der Führung von Geburts-, Ehe- und Todesregistern - um nur die wichtigsten zu nennen - zusätzlich für alle Bürger besondere Familienregister. Sie werden seit 1929 in ein- heitlicher Form und auf Grund eidgenössischer Vorschriften geführt. Jedem Zivil- standsbeamten erwächst aus diesem Umstand heraus eine doppelte Pflicht. Er muss aus der Menge aller ihm angezeigten Geburten, Eheschliessungen und Todesfälle jene herausgreifen, die Bürger anderer Gemeinden betreffen, und an diese weiterleiten. Andererseits aber hat er die von auswärts, auch von schweizerischen Konsulaten, eintreffenden Meldungen, wenn sie sich auf Bürger seiner Gemeinde beziehen, ins eigene Familienregister einzutragen. Nur durch die Zusammenfassung der zivil- standsamtlichen Meldungen am Heimatort der Bürger, ohne Rücksicht auf deren Wohnort, ist jederzeit der Nachweis des Bürgerrechtes und anderer wichtiger Tatsachen gewährleistet. Das Familienregister ist in diesem Sinne, nach Familien unterteilt, zugleich ein Bürgerverzeichnis, das zudem auch über den Zeitpunkt der Einbürgerung und die ursprüngliche Herkunft Aufschluss gibt. 
 

Auszug aus “Das neue Familiennamenbuch der Schweiz“ von Ulrich Friedrich Hagmann (1901-1986). Erschienen im Mitteilungsblatt Nr. 70 (September 2002) der Schweizerischen Gesellschaft für Familienforschung.